Das nachfolgende Gedicht „Wer bin ich?“ schrieb Dietrich Bonhoeffer (1906-1945, deutscher Theologe, von den Nazis im KZ ermordet) im Gefängnis von Berlin-Tegel im Juli 1944 kurz vor dem fehlgeschlagenen Attentat auf Adolf Hitler. Diese Frage, „Wer bin ich?“, drängt sich wohl ganz besonders dann auf, wenn man, aus welchem Grund auch immer, zum Nichtstun verbannt oder einfach längere Zeit mit sich alleine ist. Vielleicht hast du ja auch schon mit dieser Frage gerungen, wer du bist.
Zunächst spricht Bonhoeffer davon, wie er den Gefängniswärtern erscheint. Wie erleben ihn die Mitmenschen? Wie erleben dich deine Mitmenschen?
Aber bei all dem, was andere über uns sagen, in uns selbst sieht es oft ganz anders aus. So auch bei Dietrich Bonhoeffer. So vieles in seiner Seele steht in krassem Widerspruch zu dem, was andere über ihn sagen. Wie sieht es in deinem Inneren aus? Bist du mit dir selbst im Einklang?
Die Antwort auf seine Frage, wer er ist, findet Bonhoeffer nicht in der Welt, die ihn umgibt, noch in der Welt, die seine eigene Seele darstellt. Die Antwort auf diese Frage entdeckt Bonhoeffer in seinem Glauben. Er entdeckt sie bei Gott. Das ist der gleiche Gott, der auch dich gemacht hat und kennt, durch und durch. Bei ihm findest du die Antwort, wer du bist – und auch, warum du bist.
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
Dietrich Bonhoeffer
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest,
wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.
Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.
Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?
Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
Und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?
Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich,
Dein bin ich, o Gott!
Von sich selbst, von Haus aus, weiß der Mensch nicht, wer er ist. Es muss ihm von Gott gesagt werden. Gott allein ist der Bezugspunkt. Nur, wer sich Gott überlässt, kommt zur Ruhe. Hier gilt auch, was der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber so auf den Punkt brachte: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“ Nur in Beziehung zu einem „Du“ kann sich unser Ich entwickeln. Und das gilt vor allem in Bezug auf Gott, der uns geschaffen und gewollt hat.
Dazu sandte er Jesus, seinen eigenen Sohn, zu uns, damit wir in dieser vertrauten Beziehung zu Gott kommen können. Und dabei eine neue, innere Freiheit erleben. Auch die Freiheit, nicht vom Urteil anderer abhängig zu sein. Und ebenso auch Freiheit von einer ungesunden Selbstbezogenheit.
Einfacher kann man es nicht sagen, als mit den Worten, mit denen Dietrich Bonhoeffer sein Gedicht abschließt:
„Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“
vgl. „Gedichte von Dietrich Bonhoeffer“
https://magazin-lebenplus.de/gedichte-von-dietrich-bonhoeffer/b