Von dem US-amerikanischen Pastor William E. Barton (1861-1930) stammt die folgende Geschichte:
Durch meinen Wohnort führt eine Bahnstrecke. Immer dann, wenn ein Zug durchfährt, werden die Schranken heruntergelassen. Einmal wollte ich über die Gleise gehen, als die Schranken hinuntergingen. Ich hielt also an und sprach mit dem Schrankenwärter.
„Gefällt Ihnen Ihre Arbeit?“, frage ich ihn. Er sagt: „Ich bin froh, die Stelle zu haben, denn ich bin weder jung noch stark. Trotzdem ist es ein harter Job.“ – „Warum sollte er hart sein?“, fragte ich ihn. Er antwortete: „Weil ich den Leuten das Leben rette und sie mich dafür verfluchen.“ – „Das ist seltsam“, meinte ich. „Sie sollten Sie dafür lieben.“ Er fuhr fort: „Sie kommen die Straße herunter und fahren schneller als erlaubt. Dann hupen sie, damit ich die Schranken hochkurble. Oder sie schlüpfen unten durch, wenn sie zu Fuß unterwegs sind. Wenn ich sie dann davor warne, die Schienen zu überqueren, tun sie so, als wäre ich ihr Feind.“
Da fasste ich seine Hand und sagte zu ihm: „Dann sind wir Brüder, denn meine Arbeit ist wie die Ihre.“ – „Das sieht man Ihnen aber nicht an“, erwidert er. „Sind sie nicht Prediger und Philosoph?“ Ich antworte: „Ich bin Schrankenwärter. Zu den Gottlosen sage ich: ‚Geht nicht auf euren bösen Wegen, damit ihr nicht umkommt‘ – und doch tun sie weiter das, was sie schon vorher getan haben. Und zu den Sorglosen sage ich: ‚Versucht nicht, unter der Schranke hindurch zu schlüpfen, damit euch nichts Böses widerfährt‘ – doch sie tun es trotzdem.“
Peter Güthler, „Vom Lesen ins Leben“, CV Dillenburg 2014